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R#1, 2007, HD, projection
R#1, 2007, HD video, projection
R#2, 2007, HD, projection
R#2, 2007, HD video, projection

Cool Pathos

„Im Gegenwärtigen das Vergangene darzustellen, […] das Abgestorbene mit dem Lebendigen in die anschaulichste Verbindung“ zu bringen, dies ist laut Goethe die „Absicht“ [1] der Bilder Jacob van Ruisdaels (1628–1682).

Beate Gütschow hat sich zwei Bilder dieses Revolutionärs der holländischen Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts vorgenommen, um zu untersuchen, welche Potentiale sie für die Aktualisierung der Geschichte bergen: Ihr DV-Diptychon R#1 + R#2 (2007) bezieht sich auf die beiden Der jüdische Friedhof betitelten Gemälde von Ruisdael aus den Jahren 1654 und 1655 [2] . Ruisdael hatte sein düsteres Sujet aus Fragmenten der Wirklichkeit in zwei Varianten inszeniert. Lediglich die Gräber fand er genau so auf dem Beth Haim in Ouderkerk bei Amsterdam vor, während es sich bei der Ruine um die Überreste der Schlösser von Egmond oder von Bad Bentheim handeln könnte und Bach sowie Hügel vermutlich vollkommen fiktiv sind. Ruisdael konstruierte und idealisierte die Natur, um für den Betrachter eine vollendete utopische Szenerie reich an allegorischen Anspielungen zu erschaffen. Die Bilder erzeugen eine erhabene Atmosphäre, die zu frommer Kontemplation einlädt.

Für R#1 + R#2 transformiert Beate Gütschow die „gesampelten“ Gemälde in gefilmte digitale Montagen. Ausgehend von den Grabstätten in Ouderkerk hat Gütschow passende Elemente vor allem im Süden Englands ausfindig gemacht und aufgezeichnet. So liefern etwa das verfallende Corfe Castle und abgestorbene Bäume aus der Gegend von New Forest eine Entsprechung zu Ruisdaels Motiven. Die Videos vollziehen Ruisdaels Verfahren nach und übertragen es technisch in die Gegenwart. Dabei wird auch das Pathos der Bilder aktualisiert. Die Ahnungen des Utopischen kippen: Das unablässige Plätschern des an das eilige Dahinfließen des Lebens gemahnenden Bachlaufes und die im Verfall begriffenen „Grabmäler von sich selbst“ (Goethe) werden zur lebendigen Kulisse einer postapokalyptisch wirkenden Gegenwart.

Place(ments), Kunsthalle im Lipsiusbau, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 2009 © E. Estel H.P. Klut
Place(ments), Kunsthalle im Lipsiusbau, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 2009 © E. Estel, H.P. Klut

Beate Gütschows Video-Arbeit R#1 + R#2 stellt eine Weiterentwicklung ihrer „LS“-Fotografien dar: Die Künstlerin hat ihre Arbeitsweise auf das Medium Video ausgeweitet und hier zum ersten Mal zwei bestimmte Gemälde ins Zentrum ihrer Auseinandersetzung gestellt. In ihrer „LS“-Serie rekonstruierte und kommentierte sie durch digitale Montagen analog fotografierter Motive die formalen Prinzipien der Landschaftsmalerei des 17. und 18. Jahrhunderts im Allgemeinen. Die großen Foto-Prints idyllischer Landschaften scheinen vertraut ohne die Szenerien tatsächlich erkennbar werden zu lassen. Vielmehr erinnern die Bilder durch ihre Formate und Kompositionen neben Ruisdael an die Gemälde von Nicolas Poussin (1594–1665), Claude Lorrain (1600–1682), Thomas Gainsborough (1727–1788) und John Constable (1776–1837). Subtil, aber doch erkennbar verweisen unterschiedliche Tiefenschärfen und Lichteinfälle in Gütschows Montagen auf den konstruierten Charakter der arkadischen Sujets.

Auch in ihrer „S“-Serie verbindet Beate Gütschow dramatisch erhabene Kompositionen mit epischen Verfremdungseffekten: Elegante zeitgenössische Architekturen sprechen in diesen großformatigen, digital montierten Schwarz-Weiß-Fotografien von den Idealen der Moderne. Durch die abgebildeten Materialien wie auch durch den erzeugten Bildraum schleicht sich jedoch eine Brüchigkeit ein: Der Beton ist marode und die Collage verbirgt ihre disparaten Einzelteile nicht. Fortschrittsglaube und die damit einhergehende Autonomisierung des Subjekts werden hier zu einer fragmentarisierten, verfallenden Realität.

Mit ihren Arbeiten verbindet Beate Gütschow das tradierte fotografische Modell der analogen Repräsentation (im Sinne einer raum-zeitlichen Gebundenheit eines lichtempfindlichen Trägermaterials an eine raum-zeitliche Konstellation vor der Kamera) mit demjenigen der Malerei, das Realität fingieren kann. Die Künstlerin aktualisiert damit beide historische Verfahrensweisen und erzeugt neue Referenzsysteme. R#1 + R#2 markiert im Œuvre von Beate Gütschow eine Konkretisierung des Nachvollzugs allgemeiner Muster der Landschaftsmalerei zu einem dezidierten Kommentar zu zwei spezifischen Gemälden. Das DV-Diptychon überträgt die analogen, unbewegten Gemälde Ruisdaels auf digitale, bewegte Bilder. Der kühle Blick durch die Kameralinse analysiert die Konstruktionsweise der schaurig schönen, melancholischen Atmosphäre und aktualisiert ihre formalen und semantischen Implikationen/Impulse hinsichtlich der medial geprägten Wahrnehmung der Gegenwart.

Anna-Catharina Gebbers: Cool Pathos, in: Beate Gütschow: ZISLS. Heidelberg 2016, S. 28-30.

[1] Johann Wolfgang von Goethe, „Ruysdael als Dichter“ (1813).

[2] Jacob Isaacksz van Ruisdael, Der jüdische Friedhof (The Jewish Cemetery), 1654/55, Öl auf Leinwand, 142,2 x 189,2 cm; Detroit Institute of Arts. Jacob Isaacksz van Ruisdael, Der jüdische Friedhof, 1655, Öl auf Leinwand, 84 x 95 cm; Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden.

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